Proteste und Rangeleien beim Tourauftakt von Till Lindemann in Leipzig

Über 600 Menschen haben am Mittwochabend gegen ein Konzert von Till Lindemann in Leipzig protestiert. Vor der Arena kam es auch zu Rangeleien mit Besuchern und der Polizei.

Der Ton war bereits gesetzt. Von Lindemanns Gegnern, die in Person von linken Gruppen zum Protest vor der Arena aufriefen. Und vom Rammstein-Sänger selbst, der beim Auftakt seiner Solo-Tour in Leipzig viele Medien vom Konzertbesuch ausschloss, darunter die Leipziger Volkszeitung.

Bloß keine lästigen Journalisten, die nur wieder alles verdrehen könnten – so, überspitzt gesagt, in etwa die Botschaft. Einige Medienvertreter, etwa die Deutsche Presseagentur, sagten ihre Berichterstattung daraufhin ab. Andere, ohne Akkreditierung, organisierten sich Tickets auf Ebay, um dabei zu sein.

„Ihr schützt Täter!“, wurde den Lindemann-Fans zugerufen

Aber man musste gar nicht in die ausverkaufte Arena, um sich etwa ein Bild davon zu machen, welche gesellschaftliches Gewicht ein Lindemann-Konzert haben kann. Auf der einen Seite, am Osteingang, wo gegen 19 Uhr auch ein Bierwagen bereitstand, kam beinahe Volksfest-Stimmung auf. Bis 21 Uhr (Show-Time Lindemann) war ja noch Zeit.

Auf der anderen Seite die Protestrufe: „Schämt euch!“, „Ihr schützt Täter!“, und natürlich „Keine Bühne für Lindemann!“ Die „Anti-Lindemänner“ bildeten zwischen Straßenbahnhaltestelle und Einlass eine Art Spalier für das anreisende Publikum. Natürlich gemeinsam mit der Polizei, die unentwegt bemüht war, beide Gruppen voneinander zu trennen.

Polizei muss Gruppen voneinander trennen

Etwa einmal, als ein Mann den Inhalt seiner Bierdose über zwei Demonstrantinnen verteilte. Er wurde abgeführt, die beiden erstatteten Anzeige. Als ein Besucher mit roter Basecap erst sich selbst filmte – und dann verdächtig verfassungsfeindlich den rechten Arm emporstreckte, nahm davon aber kein Polizist Notiz. Viele Lindemann-Fans ließen sich triumphierend vor den Protestgruppen fotografieren. Wenn nicht mit gerecktem Arm, dann aber oft mit ausgestrecktem Mittelfinger.

Die Polizei sprach am Abend von 600 Teilnehmern beim Gegenprotest. „Er war lautstark“, aber größere Zwischenfälle habe es nicht gegeben, so ein Sprecher.

Lindemann-Fan Daniela und ihr Partner sind extra aus Berlin angereist. Haben Sie die Proteste verfolgt? „Nein.“ Die Anschuldigungen an Lindemann? „Ja, aber das ist schon lange her.“ Wer Rammstein kenne, wisse doch: „Die sind anders als normal.“ Und: „Als Frau richtet man sich doch darauf ein, wenn man eingeladen wird, zu irgendwelchen Feiern.“

Gegen Till Lindemann existieren von weiblichen Fans verschiedene Vorwürfe sexueller Gewalt. Erst in sozialen Netzwerken und später in Magazinen wie dem „Spiegel“ berichteten mehrere Frauen von Übergriffen im Rahmen von Rammstein-Auftritten oder Backstage-Partys.

Sänger Lindemann bestritt die Vorwürfe. Ermittlungen der Berliner Staatsanwaltschaft gegen ihn wurden aufgrund fehlender Beweise eingestellt. Auch, weil keine einzige Betroffene eine Strafanzeige stellte, sondern nur unbeteiligte Dritte. „Ich danke allen, die unvoreingenommen das Ende der Ermittlungen abgewartet haben“, ließ sich Lindemann zitieren.

Der Auftritt in Leipzig begann dann planmäßig gegen 21 Uhr. Vorher hatte das „Feministische Streikbündnis Leipzig“ aufgerufen, „das Konzert nicht unwidersprochen stattfinden“ zu lassen. Die Vorwürfe, so das Bündnis, seien „noch nicht ausreichend aufgeklärt“. Und: „Diese Konzerte sind keine sicheren Orte und müssen daher unterbunden werden.“


Christian Neffe

Die Ästhetik des Ekels: So war Till Lindemanns Konzert in der Arena Leipzig

Till Lindemann feierte am Mittwoch Tourauftakt in der Arena Leipzig. Während draußen rund 600 Menschen protestierten, präsentierte der 60-Jährige ein erwartbar wuchtiges Rockkonzert. Mit allzu gewollten Tabubrüchen.

Leipzig. Der Till, der traut sich noch was. Ist keiner dieser weichgespülten Softie-Musiker, kein goldgelockter Gitarrenzupfer, kein schmachtender Romantiker, der die große Liebe oder – Gott bewahre! – seine innersten Gefühle besingt. Sondern noch ein echter Kerl, der mal wieder so richtig auf den Putz haut. Der die Eier hat, bei seiner Live-Show vor mehr als 10.000 Fans Bilder von Gewalt, nackten Frauen, Vaginas, Penissen und Blowjobs auf der Leinwand zu zeigen. Schließlich ist das hier große Kunst, und Kunst darf das, verdammtnochmal!

Okay, runterkommen. Ein bisschen Polemik zu Beginn muss erlaubt sein in einem Bericht über Till Lindemanns Auftritt in der Leipziger Arena, mit dem der 60-Jährige am Mittwoch seine Tour beginnt. Schließlich verlässt man das Konzert mit ganz viel Adrenalin und Eindrücken, die die Sinne vernebeln und erstmal verarbeitet werden wollen. Und freilich auch mit einem Klingeln im Ohr, denn die eineinhalb Stunden (plus die zwei je halbstündigen Auftritte der Support-Acts Phantom Vision und Aesthetic Perfection) geraten verdammt laut.

Protest vor der Arena

Dieser Auftritt in Leipzig ist kein normales Konzert, sondern ein Politikum. Aus zahlreichen Gründen. Da ist zuvorderst natürlich der Skandal rund um Lindemann und Rammstein, der über den Sommer die Schlagzeilen beherrschte. Da ist die Verweigerung der Presseakkreditierungen, weshalb es auch keine professionellen Fotos vom Konzert gibt, dafür jedoch etliche von eifrig filmenden und knipsenden Fans im Netz.

Und da ist – infolge der Anschuldigungen gegen Lindemann – der Protest, die Kundgebung vor der Arena, bei der rund 600 Menschen ihre Wut über Lindemann und ihre Solidarität mit denen bekundigen, die ihm übergriffiges Verhalten und Machtmissbrauch vorgeworfen haben, jedoch ohne juristische Kosequenzen: Die Berliner Staatsanwaltschaft stellte die Ermittelungen aus Mangel an Beweisen ein. „Ihr schützt Täter“, „Keine Bühne für Lindemann“ und „Schämt euch“, rufen sie den anreisenden Besuchern entgegen, dazwischen immer wieder Buh-Rufe, „Sexismus ≠ Kunst“ steht auf einem Transparent.

Draußen ist diesmal also alles ein bisschen anders, auch die Sicherheitskontrollen sind schärfer als sonst, inklusive Personalausweiskontrolle – Einlass erst ab 18 Jahren. Hat man die aber erstmal überwunden und sich an den Myriaden von Rauchern vorbeigequetscht, ist drinnen alles so wie bei jedem anderen Arena-Konzert: Gedränge in den Gängen, meterlange Schlangen am Ausschank, freundliche Rücksichtnahme auf Gäste, die sich auf den Rängen an anderen vorbeischieben müssen, um auf ihren Platz zu kommen.

Es dampft und stampft, schallert und ballert

Dann, um 21.18 Uhr, versinkt die Bühne in Dunkelheit, dröhnen die ersten Töne aus den Boxen, geht’s unter Jubel und vor einem Meer von Handybildschirmen los. Lindemann – in roter Ganzkörpermontur mit Hut und Schnauzbart – zieht sich eine Endoskopkamera aus dem Magen, die Speiseröhre empor bis zur Nahaufnahme vom Mund, zu beobachten auf der Leinwand hinter ihm. „Zunge“ eröffnet nicht nur das gleichnamige neue Album, sondern auch die Show, es folgen sowohl weiteres neues Lindemann-Matieral wie „Schweiß“, „Altes Fleisch“ und „Sport frei“ als auch ältere Songs wie „Golden Shower“, „Steh auf“ und „Ich hasse Kinder“.

Das ist in Summe nicht nur deutlich kürzer als ein Rammstein-Konzert, es fehlt auch dessen Abwechslung und Dramaturgie. Nur zweimal, beim Flamenco „Tanzlehrerin“ und der ersten Hälfte von „Knebel“, wird es etwas ruhiger, ist Zeit zum Luftholen. Der Rest hingegen ist durchweg schwermetallischer In-die-Fresse-Sound, dampft und stampft, ballert und schallert durch die Mehrzweckhalle.

Wo innerhalb von Rammstein, dieser seit Jahrzehnten zusammenarbeitenden Band, jede Position, jedes Instrument Charakter und Identität hat, wo es präsentere Melodien, Höhen und Tiefen gibt, verkommt der Sound bei Lindemanns Soloprojekt zum brachialen Einheitsbrei, um den Fokus ganz auf ihn und seinen markanten Bariton zu lenken. In seiner Monotonie, seiner Stumpfheit und Stupidität ist das kurioserweise jedoch durchaus und durchweg unterhaltsam, ja sogar irgendwie einnehmend.

Was will Kunst?

Dabei kommt Lindemann jedoch nicht umhin beziehungsweise darüber hinweg, sein Image als „Schock-Rocker“ stetig unter Beweis stellen zu müssen. Während auf der Bühne nur Harmloses passiert – zu „Allesfressen“ darf die Band Torten ins Publikum werfen, zu „Platz eins“ lässt sich Lindemann mit päpstlichen Gesten auf einer Sänfte durch die Menge tragen, und die miniberockte Keyboarderin räkelt sich bisweilen an der Pole-Stange –, erscheinen auf der Leinwand Videoclips, in denen Lindemann mit korpulenten, nackten Frauen ringt („Fat“), sich junge Damen allerhand Essen in den Mund stopfen („Allesfresser“), er eine gefesselte Frau mit Luftentzug per Plastiktüte foltert („Gummi“).

Je länger die Show dauert, desto höher fällt die Genitalien-Frequenz auf der Leinwand aus. Was Oma und Opa noch brüskiert, dürfte der Generation YouPorn allerdings nur ein müdes Schulterzucken entlocken.

„Was darf Kunst?“, wird bei echten und vermeintlichen Tabubrüchen gern mal gefragt. Dabei lautet die bessere Frage: Was will Kunst? Im Falle Lindemanns (so man denn erstmal davon ausgeht, dass das überhaupt Kunst ist): die Ästhetik des Ekels zelebrieren, sowohl des körperlichen als auch des moralischen. Gewalt, Sex, gewaltsamer Sex, mutmaßlich unästhetische Körper, Kotze, Pisse und andere Körperflüssigkeiten – alles dabei, aber mit zunehmender Dauer auch immer banaler, weil das permanante Provokations-Tänzchen früher oder später abstumpfen lässt.

Wenig bleibt vom Lindemann-Konzert

Lindemann kann das freilich egal sein, nichts lässt er an sich heran, bleibt ganz Kunstfigur – und bricht aus dieser Rolle auch zu keiner Zeit aus, wenn er über die Bühne trottet, headbangt und zappelt, wenn er zum wiederholten Male die Deko umtritt, die der emsige Roadie sogleich wieder aufstellt, wenn er weder zwischen den Songs noch ganz am Schluss auch nur ein Wort abseits seiner Texte verliert, hinter die Fassade blicken lässt. Wo kämen wir da auch hin?

Zum Schluss stattdessen: stummes Aufstellen mit der Band, Verbeugung, Abgang unter Jubel. Das unspektakuläre Ende eines Rock-Konzerts, das immerhin richtig fett geknallt hat. Von dem aber wenig bleibt außer der Erinnerungen an einen älteren Herren, der geradezu krampfhaft versucht, zu polarisieren. Und das ja auch offensichtlich schafft.